Entstehung

Vorgeschichte

Zürich-Aussersihl, wo das Volkshaus zu stehen kommen sollte, war am Ende des 19. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum der schweizerischen Arbeiterbewegung. Arbeiterinnen und Arbeiter nutzten auf kleinstem Raum Druckereien, Gewerkschaftsbüros, Wirtschaften und Hinterhöfe für Austausch und Diskussion, Streikversammlungen und Demonstrationen. In einer wachsenden Stadt wie Zürich wurde die Raum- und Lokalfrage für die in kleine Wohnungen eingepferchte Arbeiterschaft immer brennender. Die vorhandenen Säle der Brauereien und Wirtshäuser reichten nicht mehr aus, so dass die Arbeiterschaft der Idee eines Volkshauses positiv gegenüberstand.

Von der Idee bis zur Verwirklichung sollte es aber noch dauern. Im Herbst 1893 versammelten sich beim bekannten Psychiater Auguste Forel Männer und Frauen aus verschiedenen Gesellschaftskreisen, um die Idee eines Volkshauses zu beraten. Eine Kommission unter dem Vorsitz von Pfarrer Bion arbeitete die Grundzüge für den geplanten Bau aus. Man wollte die Abgabe von billigen und gut zubereiteten Speisen ermöglichen, um die Ernährung der ArbeiterInnen zu verbessern. Weiter geplant waren günstige Badegelegenheiten zur Förderung der Gesundheitspflege und Räumlichkeiten für gesellige Zusammenkünfte und kulturelle Veranstaltungen. Ausserdem wurde die Erstellung eines Lesesaals sowie von Büros für die Arbeiterorganisationen in Aussicht gestellt.

Es entstanden mehrere Projektskizzen. Nachdem anfänglich das städtische Areal zwischen Limmat-, Gasometer- und Heinrichstrasse im heutigen Kreis 5 als Bauareal erwogen wurde, entschied sich die Kommission im Jahre 1899 für ein an der Stauffacherbrücke links der Sihl gelegenes Landstück, welches sich in privatem Eigentum befand. Im Frühjahr 1900 erschien das “Projekt und Programm eines alkoholfreien Volkshauses am Stauffacherplatz in Zürich III“. Bereits konnten Anteilscheine für eine zu gründende Genossenschaft gezeichnet werden. Wegen der Wirtschaftskrise wurde die Planung unterbrochen, und der vorgesehene Bauplatz wurde anderweitig veräussert.

1903 unternahm das erweiterte Initiativkomitee einen neuen Anlauf. Man bat den Stadtrat um die Überlassung eines Teils des städtischen Areals am Helvetiaplatz, zwischen Anker-, Stauffacher-, und Bäckerstrasse. Dieser Antrag wurde wohlwollend aufgenommen. Auch die Finanzierung schien möglich. Da jedoch mit Genossenschaftsanteilen kein genügendes Eigenkapital zustande kam, entschied sich das Initiativkomitee für die Gründung einer Stiftung. Zur Vorbereitung der Stiftungsurkunde wurde eine Spezialkommission bestellt, der Friedrich Erismann, Eugen Bleuler, Susanna Orelli und Robert Seidel angehörten. 

Die Stiftungsurkunde

Die Stiftungsurkunde wurde am 27. September 1905 vom Initiativkomitee beschlossen und am 7. Mai 1907 notariell beglaubigt. Die ersten vier Artikel lauteten wie folgt

Artikel 1

Der Zweck des alkoholfreien Volkshauses muss darin bestehen, der Bevölkerung zweckmässig und freundlich ausgestattete Versammlungsräume sowie Räume zu geselliger Unterhaltung und zu Bildungszwecken zur Verfügung zu stellen. Die Räume des Volkshauses sollen ferner zum Betriebe eines alkoholfreien Restaurants und einer Speiseanstalt und zu anderen Einrichtungen, für die ein öffentliches Bedürfnis vorhanden ist (z.B. Badeanstalt), dienen.

Artikel 2

Der Konsum oder Vertrieb alkoholhaltiger Getränke in den Räumen des Volkshauses ist unter keinen Umständen gestattet.

Artikel 3

Das Volkshaus steht allen Kreisen der Bevölkerung ohne Rücksicht auf ihre religiösen oder politischen Bestrebungen zur Verfügung.

Artikel 4

Die Gebühren für die Benutzung der Institutionen des Volkshauses sollen so niedrig als möglich gehalten werden.

In den folgenden Artikeln wurde festgelegt, dass ein Volkshausverein zu gründen sei, dem die Wahl des aus 15 bis 20 Mitgliedern bestehenden Stiftungsrates der Volkshausstiftung obliegt. Drei Mitglieder des Stiftungsrates wurden (und werden) direkt vom Zürcher Stadtrat ernannt.

Das Volkshaus wird gebaut

Die Architekturfirma Streiff & Schindler wurde mit der Erstellung von Plänen beauftragt. Diese wurden dem Initiativkomitee vorgelegt. Am 30. Oktober 1905 unterbreitete das Komitee dem Stadtrat die Stiftungsurkunde und die Pläne zusammen mit dem Gesuch um einen Beitrag von 250'000 Franken. Regierung und Parlament befürworteten den Beitrag. Am 15. Juli 1906 stimmten die Stimmbürger dem Beitrag mit 10'110 Ja- gegen 5’458 Neinstimmen zu

Der detaillierte Kostenvoranschlag ergab, dass der Hauptbau, teils als Folge der inzwischen eingetretenen Teuerung, nicht wie geplant erstellt werden konnte. Der Bau des Theatersaals wurde deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. 

Im Juni 1909 wurde mit dem Bau begonnen. Die Arbeiten gingen ohne Zwischenfälle voran, bis kurz vor dem Bezugstermin ein Streik der Monteure die Installationsarbeiten verzögerte. Die Büros konnten dann am 1. Oktober 1910, das Restaurant am 1. November 1910 bezogen werden. Das neue Volkshaus enthielt im Kellergeschoss Badeanlagen für Männer und Frauen mit insgesamt 29 Wannenbädern und 20 Duschbrausen. Im Erdgeschoss gab es drei Restaurationsräume mit zusammen 450m² Fläche sowie einen Laden mit 60m² Grundfläche, im ersten Stock die vier grossen Säle. Der Blaue Saal wurde als Lesesaal an die Pestalozzigesellschaft vermietet. Im zweiten Stock befanden sich zwei Klubräume, ein Sitzungszimmer und verschiedene Büros. Im dritten Stock lagen die Verwalterwohnung mit vier Zimmern sowie diverse Lagerräume.

Der Erweiterungsbau

Es war für viele eine Enttäuschung gewesen, dass mit dem Hauptbau nicht auch gleichzeitig der grosse Saal erstellt werden konnte. Die starke Belegung der Säle zeigte das Bedürfnis für einen Theatersaal. Die Kriegsjahre 1914 bis 1918, die auch dem Volkshaus allerlei Sorgen brachten, liessen jedoch vorerst nicht an den Bau denken.

Erst im Jahre 1924 bestellte der Stiftungsrat eine Baukommission, um die Vorarbeiten für den Saalbau zu treffen. Die Beratungen ergaben folgendes Bauprogramm: einen Saal mit 1200 Sitzplätzen und Bühne, einen Bibliothekraum für die Pestalozzigesellschaft, einen Raum für die Unionsbibliothek, mindestens zehn neue Gewerkschaftsbüros sowie einige Wohnungen im dritten Obergeschoss. Aus einem Wettbewerb wurde in Zusammenarbeit mit dem städtischen Hochbauamt das Projekt Kündig & Oetiker ausgewählt. Der Kostenvoranschlag für den Erweiterungsbau von 1,68 Millionen Franken wurde von der Zürcher Kantonalbank (700'000 Franken im ersten Rang) und der Stadt (300'000 Franken im zweiten Rang) mitfinanziert. An die Stadt wurde ein Gesuch um einen Beitrag von 600'000 Franken gestellt, während der Rest von der Volkshausstiftung aufgebracht wurde. Stadt- und Gemeinderat traten auch diesmal für den Beitrag ein und die Stimmberechtigten stimmten ihm am 11. Juli 1926 mit 16'491 Ja- gegen 12'836 Neinstimmen zu. Am 6. Oktober 1928 konnte der Theatersaal eingeweiht werden.

Das Leben im Volkshaus

Von Anfang an herrschte in den verschiedenen Räumen des Volkshauses ein geschäftiges Treiben, das bis heute angehalten hat. Es gibt nicht viele Gebäude in der Stadt, wo vom frühen Morgen bis tief in die Nacht reger Publikumsverkehr herrscht.

Da im Arbeiterviertel Aussersihl nur wenige Wohnungen mit Bad vorhanden waren, übertraf die Nutzung der Wannen- und Brausebäder von Beginn an alle Erwartungen. Schon das erste Betriebsjahr brachte 114'000 Benützer. Im Jahre 1916 wurde mit 164'000 die höchste Badefrequenz erreicht. Die folgende Aufstellung zeigt deutlich, wie intensiv die Hygienemöglichkeiten genutzt wurden:

DURCHSCHNITTLICHE ANZAHL BÄDER:

JAHRZEHNT PRO JAHR PRO TAG
1911-1920 136'700 450
1921-1930 112'900 370
1931-1940 66'200 220
1941-1950 50'200 170
1951-1960 45'500 150

Am grössten war der Besucherstrom am Wochenende. Dank der Eröffnung städtischer Hallenbäder und dem Umstand, dass bald kaum mehr Wohnungen ohne Bad gebaut wurden, ging die Besucherfrequenz zurück. Seit einigen Jahrzehnten wird deshalb in den ehemaligen Baderäumen eine Sauna bzw. heute ein Hamam betrieben, der die Badetradition im Volkshaus aufrecht hält.

Die Säle und Sitzungszimmer des Volkshauses werden nach wie vor rege benutzt. In den letzten Jahren wurden sie jeweils deutlich über 2'500 Mal jährlich von verschiedensten Veranstaltern gemietet. Das wichtigste finanzielle Standbein des Hauses ist der Theatersaal, wo insbesondere in den 1970er- und 1980er- Jahren fast ausschliesslich Konzerte stattfanden. Seit einer umfassenden Renovation im Jahre 1994 ist erneut eine vielfältigere Nutzung des Saals möglich.

Mitentscheidend für die Wirtschaftlichkeit des Volkshauses war sicherlich die Aufhebung des Alkoholverbots im Jahre 1979. Nachdem verschiedene Saalbenützer und auch die Stadtverwaltung den Wunsch geäussert hatten, in den Versammlungssälen und im Restaurant alkoholische Getränke zu konsumieren, konnte mit Unterstützung von Professor Hans Riemer das in der Stiftungsurkunde enthaltene strikte Alkoholverbot aufgehoben werden. Ausserdem wurden die Räumlichkeiten in den letzten Jahrzehnten mit einigem Aufwand den veränderten Anforderungen der Kundschaft angepasst. So ist es möglich, dass das Volkshaus auch in Zukunft seinem wichtigsten Zweck, nämlich ein Begegnungsort für alle Teile der Bevölkerung zu sein, gerecht wird.

Literatur

Bäder, Bildung, Bolschewismus von Susanne Eigenheer (Chronos Verlag) 100 Jahre Volkshaus Zürich - Bewegung, Ort, Geschichte. Hg. Urs Kälin, Stefan Keller und Rebekka Wyler (hier + jetzt Verlag, 2010)

Weitere Informationen

Das Archiv der Volkshausstiftung befindet sich im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich (Archivbestand Ar 464).